Die Anforderungen an die Höhe des Selbstbehalt aus sozialpolitischer Sicht.

 

Die Anforderungen an die Höhe des Selbstbehalt aus sozialpolitischer Sicht.

 

Gegenwärtig unterliegt der familienrechtlich relevante Selbstbehalt Änderungen, die sich aus der rechtspolitischen Situation seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Februar 2010 (vgl. 1 BvL 4/09) ergeben. Der Selbstbehalt soll dem Unterhaltspflichtigen ein Auskommen ermöglichen, das im seinen eigenen Lebensbedarf abdecken soll. Er setzt sich zusammen aus dem eigentlichen Regelsatz, den Unterkunftskosten und einem angemessenen Erwerbsanreiz, dessen Funktion im Weiteren erläutert wird.

 

Ausgehend von dieser Entscheidung wird gegenwärtig die Frage geklärt, wie die grundlegenden Komponenten Regelsatz und die notwendigen Kosten der Unterbringung definiert sein müssen, um dem Einzelnen ein menschenwürdiges Dasein in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Gleiches gilt für einen weiteren angemessen Freibetrag, der einen Erwerbsanreiz darstellen und einen gewissen Spielraum für erhöhte Sonderausgaben ermöglichen soll.

 

Für den Selbstbehalt bedeutet diese Entwicklung eine notwendige Anpassung an diese neu zu definierenden Maßstäbe. Eine Anpassung an diese Entwicklung ist für die Festsetzung des Selbstbehalts unumgänglich. Diese Anpassung muss einhergehen mit der Anpassung der Regelsätze, zu der der Gesetzgeber bis zum Ablauf des 31.12.2010 von Seiten des Bundesverfassungsgerichts aufgefordert wurde. Maßgeblich für die Bestimmung des Selbstbehalts sind die Bezugsgrößen des Regelsatzes, die notwendigen Unterkunftskosten und ein ausreichender Erwerbsanreiz. Die sonstigen sozialrechtlich relevanten Positionen, wie die berufsbedingten Aufwendungen, oder die Beiträge für eine angemessene Versicherung oder eine Altersvorsorge können im Unterhalt sowohl als Vorwegabzug bei dem Einkommen oder aber als weitere Pauschale im Rahmen des Selbstbehalts Berücksichtigung finden. In jedem Fall sollte ein gewisser Spielraum für den Unterhaltspflichtigen für sonstige dringende Ausgaben möglich sein.

 

Die Frage ist, auf welche Weise die Neubestimmung des Selbstbehalts diesen Anforderungen gerecht werden kann. Hierbei sind wiederum die Vorgaben der Leistungen des SGB II zu berücksichtigen und der Ermittlung zugrunde zu legen.

 

Mit dem Selbstbehalt werden unterschiedliche, einander sich widersprechende Bedürfnisse verbunden, die einer klaren Strukturierung widersprechen.

 

Der Selbstbehalt steht in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Anliegen, auf der Seite des Unterhaltsberechtigten, ein Auskommen oberhalb der Grenze des sozioökonomischen Selbstbehalts zu ermöglichen, und aus der Seite des Unterhaltsverpflichteten, seinen angemessenen Lebensbedarf zu bestreiten, ohne selbst bedürftig zu werden. Der Selbstbehalt soll dem Unterhaltspflichtigen entsprechend der Forderung der Rechtsprechung ein Leben oberhalb dieser Grenze ermöglichen. Der Unterhaltspflichtige soll selbst nicht infolge der Unterhaltspflicht bedürftig werden (vgl. Bundesverfassungsgericht FamRZ 2001, 1685 u. FamRZ 2003, 661 und BGH, FamRZ 1990, 849, 850 u. 2006, 683, 684). Er soll also in der Lage sein, weiterhin für seinen Lebensbedarf zu sorgen. Andererseits soll dieser notwendige Spielraum für den eigenen Lebensbedarf in einem angemessen Verhältnissen zu den notwendigen Bedürfnissen des Unterhaltsberechtigten stehen und diese unterschiedlichen Bedürfnisse zu einem angemessenen und gerechten Ausgleich führen.

Besonders deutlich wird dieser Zielkonflikt im Bereich des Kindesunterhalts, da minderjährige Kinder und die ihnen gleichgestellten Kinder einen erhöhten notwendigen Bedarf haben, der sich unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010 künftig stärker auf die Teilhabe an der Ausbildung und deren Realisierung erstrecken soll. Dem Unterhaltsverpflichteten soll hierbei nur ein notwendiger Selbstbehalt zustehen, der sich an den Vorgaben dar Leistungen des SGB II orientiert. Dieser liegt derzeit noch bis zum 31.12.2010 gegenüber minderjährigen und diesen gleichgestellten Kindern im Falle der Erwerbstätigkeit des Unterhaltsverpflichteten bei € 900,00, im Falle der Erwerbslosigkeit bei € 770,00.

 

Für den Bereich des angemessenen Selbstbehalts stellt sich die Situation anders dar, da hier die Grenzen des Selbstbehalts großzügiger bemessen sind. Die Unterhaltsberechtigten verfügen hier über andere Möglichkeiten, für ihren eigenen Lebensbedarf zu sorgen. Gegenüber den Unterhaltsansprüchen volljähriger Kinder liegt dieser Selbstbehalt bei gegenwärtig € 1.100,00 für Erwerbstätige bzw. € 935,00 für Erwerbslose. Bei Unterhaltsansprüchen von getrennt lebenden oder geschiedenen Ehepartner oder nichtehelichen Partnern nach § 1615 l BGB bei € 1.000,00 für Erwerbstätige bzw. € 935,00 für Erwerbslose.

 

Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Beträge den neuesten Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden können. Hierbei steht die Definition des sozioökonomischen Existenzminimums nach der Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 4/09) besonders im Vordergrund der Betrachtung. Gesichert werden soll das menschenwürdige Existenzminimum, mit dem nicht nur der notwendige Lebensbedarf abgedeckt, sondern auch die Teilnahme an dem sozialen Leben in einem zumindest bescheidenen Umfang ermöglicht werden soll. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins sichert jedem Hilfebedürftigem diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichem, kulturellem und politischem Leben unerlässlich sind. Dieses Mindestmaß soll der Gesetzgeber in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, bemessen.

 

Welche Grenze darf der Selbstbehalt derzeit nicht unterschreiten? Diese Frage ist nach den gängigen Regelsätzen zu beantworten. Die bis zum 31.12.2010 vorläufig weiter geltenden Regelsätze liegen bei einem Alleinstehenden bei € 359,00. Hinzukommen die durchschnittlichen Kosten für die Unterkunft und Heizung von derzeit € 320,00.

 

Weiterhin sind die nach § 30 II SGB II zu berücksichtigenden Freibeträge für das Erwerbseinkommen hinzuzurechnen. Basis der Freibeträge nach § 30 II SGB II ist das Bruttoeinkommen des Erwerbstätigen, also das Einkommen ohne Abzug der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge. Das System dieser Freibeträge sieht bei einem Bruttoeinkommen bis € 800,00 neben dem Grundfreibetrag von € 100,00 einen weiter abzusetzenden Freibetrag von 20% aus der Differenz zu dem Grundeinkommen vor mit der Folge, dass dem Erwerbstätigen von einen Anteil von € 700,00 noch € 140,00 als weiterer Freibetrag verbleiben. Dieser weitere Freibetrag erhöht sich bei dem die Grenze von € 800,00 übersteigenden Einkommen aus der Differenz zu dem Einkommen von € 800,00 um weitere 10%. Bei einem Bruttoeinkommen von € 1.200,00 ergibt sich daher bei einer Differenz von € 400,00 noch ein Abzug von weiteren € 40,00 für den Freibetrag. Damit steht dem Erwerbstätigen beispielsweise bei einem Bruttoeinkommen von mindestens € 1.200,00 insgesamt ein Freibetrag von € 280,00 zur Verfügung. Damit müsste sich der Freibetrag im Sinne eines Erwerbsanreizes für den Unterhaltspflichtigen generell auf insgesamt € 280,00 erhöhen mit der Folge, dass der notwendige Selbstbehalt im Bereich des Kindesunterhalts bereits bei einem Betrag von € 959,00 liegt. Im Rahmen des notwendigen Selbstbehalts dürfte dieser damit die Grenze von € 959,00 nicht unterschreiten. Unberücksichtigt bleibt hierbei der eingangs geforderte Spielraum für weitere notwendige Ausgaben wie die berufsbedingten Aufwendungen oder Beiträge für die Versicherungen und die Altersvorsorge.

 

Der Selbstbehalt sollte daher diese Grenze angemessen überschreiten dürfen. Angesichts der Unsicherheit über die Höhe des sozialrechtlichen Existenzminimums in der Zeit nach dem 01.01.2011 sollte dieser Spielraum eher großzügig angesetzt werden, da keine abschließenden Bezugsgrößen derzeit existieren.

 

In der Praxis unterliegt jedoch der Unterhaltspflichtige gewissen variablen Kosten, die neben den eigentlichen Abzugspositionen im Rahmen der Ermittlung des konkreten Unterhalts, wie den berufsbedingten Aufwendungen, die überwiegend mit einem Anteil von 5% vom Nettoeinkommen angesetzt werden oder den notwendigen Kosten für eine Altersvorsorge auftreten können. Gleichermaßen aufzuzählen sind die gestiegenen Wohnkosten in Großstädten oder auch gestiegene Fahrt- oder Kreditkosten. Diese müssen ebenfalls von einem gewissen finanziellen Puffer bestritten werden können. Der BGH akzeptiert mittlerweile einen Erwerbsanreiz (vgl. BGH, FamRZ 2010, 357), auch wenn die konkrete Höhe derzeit noch umstritten und damit offen ist.

 

Für diesen finanziellen Spielraum, der nicht abschließend von dem Erwerbsanreiz abgedeckt werden kann, spricht, dass mit diesem ein weiterer Erwerbsanreiz verbunden ist, dieser also der Arbeitsmotivation dient und einen Spielraum für Sonderausgaben belässt.

 

Nach den jüngsten Entwicklungen erscheint selbst dieser finanzielle Spielraum jedoch als zu gering. Im Bereich der notwendigen abzugsfähigen Kosten, die ebenfalls von dem Erwerbsanreiz bestritten werden können, sind zusätzliche Belastungen für den Bürger zu erwarten, die zu einer Verringerung des derzeitigen Nettoeinkommensniveaus führten. Angesprochen sind die zu erwartenden Erhöhungen der Krankenkassenbeiträge und die vermehrt von den Versicherten zu zahlenden Zusatzbeiträge an die Krankenkassen. Einerseits sind die Beiträge von derzeit 7,9 % und künftig von 8,20 %, die der Versicherte selbst neben dem Arbeitgeber zu zahlen hat, im Bereich des Vorwegabzugs zu berücksichtigen, Andererseits unterliegen die Zusatzbeiträge den notwendigen zusätzlichen Ausgaben, die im Rahmen des Erwerbsanreizes der € 280,00 zu tragen sind. In jedem Fall erhöhen sich die Beiträge im Bereich durchschnittlicher Einkommen um bis zu € 7,95. Die weiter partiell auftretenden Zusatzbeiträge summieren sich auf bis zu € 30,00 – je nach Einkommen.

 

Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit die derzeit geltenden – eingangs zitierten - Sätze überhaupt noch die obigen Funktionen erfüllen. Dieses wird anhand eines einfachen Beispiels hinterfragt, bei dem der Unterhaltsverpflichtete ein Bruttoeinkommen von € 2.650,00 brutto verdient. Dieses Einkommen entspricht dem durchschnittlichen Einkommen, das die Rentenversicherung einer durchschnittlichen Altersrente zugrundelegt. Aus diesem Bruttoeinkommen ergibt sich ein Nettoeinkommen von ca. € 1.682,00, hiervon werden für die berufsbedingten Aufwendungen ein Anteil von 5% (€ 84,10) abgezogen. Damit verbleiben ihm ca. € 1.598,00 an unterhaltsrelevantem Nettoeinkommen. Hiervon zahlt er an seine zwei Kinder im Alter von 5 und 8 Jahren und der Unterhaltspflicht für seine getrenntlebende oder geschiedene Ehefrau Unterhalt in den Grenzen bis zum derzeit geltenden Selbstbehalt, also € 225,00 für das jüngere Kind und € 272,00 für das ältere Kind und € 101,00 an seine Ehefrau. Damit bleiben ihm nur die € 1.000,00.

 

Mit diesem Spielraum wird er künftig nicht in der Lage sein, seinen notwendigen Kosten zu bestreiten, ohne Zuschüsse für seine Unterkunftskosten für die Miete oder die Unterkunftskosten zu beantragen. Ebenso stehen die Kosten für die eigene zusätzliche Altersabsicherung in Frage, gleiches trifft auf die Fahrtkosten den Weg zur oder von der Arbeit angesichts gestiegener Energiekosten und geringerer steuerliche Absetzbarkeit zu. Diese Entwicklung betrifft gleichermaßen auch den angemessenen Selbstbehalt.

 

Gegenwärtig spricht daher vieles dafür, den gegenwärtigen Selbstbehalt um den tatsächlichen Freibetrag nach § 30 II SGB II in einer Höhe von € 280,00 zu ergänzen. Damit dürfte der Selbstbehalt zunächst im Bereich des notwendigen Lebensbedarfs einen Betrag von € 959,00 nicht unterschreiten. Das OLG Frankfurt hat hierzu bereits in seinen neuen Leitlinien – Stand 01.07.2010 – angedeutet, für die Zeit ab dem 01.01.2011 den Selbstbehalt in folgender Weise zu erhöhen und damit dieser Grenze anzupassen.

 

Den notwendigen Selbstbehalt soll laut dieser Leitlinien von derzeit € 900,00 auf € 950,00 für Erwerbstätige und von € 770,00 auf € 800,00 für Nichterwerbstätige erhöht werden. Der angemessene Selbstbehalt soll sich von derzeit € 1.100,00 auf € 1.150,00 für Erwerbstätige ohne Aufteilung von Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen erhöhen. Der Ehegattenselbstbehalt soll sich von € 1.000,00 auf € 1.050,00 für Erwerbstätige und von € 935,00 auf € 975,00 für Nichterwerbstätige erhöhen.

 

Diese Anhebungen des Selbstbehalts erscheinen angesichts der oben genannten Unsicherheitsfaktoren, also der konkreten Erhöhung einzelner Positionen im Bereich eines zusätzlichen Erwerbsanreizes als zu gering, da sie die Gefahr zusätzlicher Leistungen aus öffentlichen Mitteln zu Deckung des Lebensbedarfs nicht ausschließen. Daher erscheint eine Erhöhung des notwendigen Selbstbehalts auf mindestens € 1.000,00 für Erwerbstätige bzw. € 850,00 für Erwerbslose notwendig, soll der Selbstbehalt noch einen Anreiz für eine Erwerbstätigkeit und einen Puffer für notwendige nicht abzugsfähige Sonderausgaben darstellen. Entsprechend sollte auch der Rahmen für den angemessenen Selbstbehalt – gegenwärtig in den Grenzen der Leitlinien des OLG Frankfurt für die Zeit ab dem 01.01.2011 – angepasst und eine spätere weitere Erhöhung nicht ausgeschlossen werden.

 

Manfred Hanesch, Fachanwalt für Sozial- und Familienrecht